Scheitern … weit verbreitet und wenig diskutiert

Ich weiß gar nicht mehr, ob ich damals alleine oder mit Freunden vor dem Fernseher gesessen habe.
Uli Hoeneß jagt den entscheidenden Elfmeter im Endspiel der Fußball-EM 1976 über’s Tor in den Belgrader Nachthimmel.

Die deutsche Mannschaft ist im Finale gescheitert. Die etwas Älteren unter Ihnen erinnern sich vielleicht auch noch daran…

Ums Scheitern soll es heute gehen. Ist das doch bei näherem Hinsehen ein recht komplexes Thema. 1976 in diesem Endspiel ist es schnell geklärt. Wer im Finale nicht gewinnt, ist gescheitert. War die deutsche Mannschaft doch damals – wie übrigens heute auch wieder – der amtierende Weltmeister. Dann konnte man doch davon ausgehen, das eine – von der Konkurrenz der Mannschaften her – „leichtere“ Europameisterschaft gewonnen wird.
Hat leider nicht geklappt.

Wenn hier nun relativ leicht von einem Scheitern im Finale gesprochen wird, ist der Begriff in vielen anderen Bereichen nicht so leicht zu fassen. Denn außerhalb einer eher spektakulären Fußball-EM kann uns das Thema mit etwas Aufmerksamkeit täglich begegnen. Ehen werden tausendfach jedes Jahr geschieden, Insolvenzen wie jetzt aktuell die der Bonner Solarworld oder von Air Berlin machen die Runde, viele kleine Geschäfte in den Innenstädten öffnen und schließen bald wieder. Trotz hohen persönlichen und finanziellen Einsatz bleibt der Erfolg aus.

Und wenn wir selbst betroffen sind, wird Scheitern zu einem sehr menschlichen, persönlichen und manchmal auch existentiellen Thema. Dem wir uns nicht entziehen können und sollten. Aus dem wir vieles lernen und daran in unserer persönlichen Entwicklung wachsen können.

Wie wir mit Scheitern umgehen, hat einen großen Einfluss auf unsere persönliche und berufliche Entwicklung. Auch die erfolgreichsten Menschen sind zuvor sicher einige Male gescheitert und haben neu angefangen bzw. trotz ihrer Misserfolge weitergemacht. Der Duden erklärt scheitern mit: „ein angestrebtes Ziel oder Ähnliches nicht erreichen, keinen Erfolg haben“.

Dazu einige Beispiele:

  • Ich habe 1986 den faszinierenden Extrembergsteiger Reinhold Messner in meiner Zeit als Journalist auf seiner Vortragstour anlässlich der erfolgreichen Ersteigung aller 14 8000er Tausender der Welt interviewt. Kurz zuvor hatte er den letzten fehlenden Gipfel „bezwungen“. Er berichtete eindrücklich davon, dass er diesen Erfolg geschafft und alle seine Touren bis heute überlebt hat, weil er mehr als 1/3 seiner Expeditionen aufgrund der widrigen Bedingungen abgebrochen hat. Ein bewundernswertes intuitives Gespür dafür, was geht und wann die Gefahren zu groß sind. Und später erneut zum nächsten Gipfel wieder aufgebrochen ist, bis er alle 8000er erstiegen hatte. Viele seiner MitkonkurrentInnen sind dabei ums Leben gekommen.
  • Bei der Abschlussfeier der Abiturklasse der Waldorfschule meiner jüngeren Tochter spricht auch eine Lehrerin, die noch nicht lange dort unterrichtet. Sie hatte vor einigen Jahren kurz vor dem Staatsexamen schon das Stellenangebot einer staatlichen Schule erhalten. Doch dann merkt Sie, sie schafft es nervlich nicht zu ihrer Prüfung anzutreten. Später besteht sie in einem zweiten Versuch ihre Prüfung, aber die zugesagte Stelle ist nun weg.
    Sie bewirbt sich in der Waldorfschule und geht dort richtig in ihrer Arbeit auf. Während ihrer Rede sagt Sie: „Die Schule ist gut für mich“ und „ich bin gut für die Schule“.
  • Der Fußball-Profi Thomas Broich, der von 2002 bis 2010 bei Borussia Mönchengladbach, dem 1. FC Köln und zuletzt glücklos beim 1. FC Nürnberg spielte, verlässt Deutschland und machte ab 2010 in Australien eine heute schon legendäre Karriere: Er gewann mit seinem Verein Brisbane Roar 2011 die australische Meisterschaft, wurde 2012 und 2014 als bester Spieler der Saison ausgezeichnet und 2014 zudem als Fußballer des Jahrzehnts in Australien geehrt. In Deutschland fast abgeschrieben, in Australien zum Star avanciert. Der sehenswerte DokumentationsfilmTom meets Zizou berichtet davon.
  • Eine Ehe scheitert nach 20 Jahre und die Ehepartner gehen getrennte Wege. Während die Frau sich wie befreit fühlt und viel neue Projekte angeht, will der Mann die Scheidung lange Zeit nicht akzeptieren und verfällt in Depressionen. Die beiden Partner bewerten rückwirkend die gemeinsame Zeit sehr unterschiedlich. Sie denkt dankbar an die gemeinsame, aber für sie nun beendete gemeinsame Zeit zurück, er verharrt mitleidig in seiner Kränkung und Verlassenheit.
  • Sie alle kennen vermutlich die gelben Post-It Haftzettel. Sie sind eher zufällig entstanden. Ein Mitarbeiter sah sich in seinen langen Bemühungen „gescheitert“, einen neuen Klebstoff zu entwickeln. Aber er hielt nicht dauerhaft und löste sich viel zu schnell bei geringer Belastung. Sein Klebstoff hielt einfach nicht. Ein Kollege suchte genau so einen Klebstoff, der sich als Klebezettel ohne Rückstände schnell wieder abnehmen lies. Der Siegeszug des gelben Post IT Zettels begann. Es gibt kaum ein Büro ohne sie.

War der verschossene Elfmeter in der subjektiven Bewertung und der Einschätzung des sozialen Umfeldes eindeutig ein Scheitern, sieht es bei vielen anderen Ereignissen nie so eindeutig aus. Oft ist die Bewertung der Notwendigkeit des Scheiterns erst in der Rückschau deutlich zu konstatieren.

An einer Aufgabe oder an einem Ziel oder einem Traum gescheitert zu sein, ist vor allem eine subjektive Bewertung und keine objektive Tatsache. Welche Instanz wollte das auch objektiv beurteilen? Spielen doch die vorher erwarteten und die später erreichten Ziele und die Kriterien zur Überprüfung des Erfolges eine entscheidende Rolle. Und wie sieht die Bewertung nach einem, fünf oder zehn Jahren aus? Das heißt, unser Urteil über unser Scheitern oder das anderer können nur relativ und vorläufig sein. Scheitern ist das Ergebnis eines sozialen Urteilsprozesses.

Scheitern ist aber etwas anderes als Fehler, die wir eventuell hätte vermeiden können. Wir sollten aus unserem Fehlern lernen und sie nicht wiederholen.
Wer einen Fehler gemacht hat und ihn nicht korrigiert, macht eine zweiten.“ Konfuzius

Aber scheitern können wir trotz bester Fehlervermeidung durch äußere Faktoren.
Der Landwirt hat sorgfältig investiert und gearbeitet und doch fährt er aufgrund eines Tornados oder einer Überschwemmung eine Missernte ein.

Ein mittelständiges Familienunternehmen muss nach 80 Jahren Bestand Insolvenz anmelden, weil der wichtigste Zulieferer die wichtigsten Bauteile mit minderer Qualität geliefert hat und die gesamte Jahres-Produktion unverkäuflich bleibt. Die Rückläufe haben am Ende alle Werkshallen gefüllt.

Scheitern ist von vielen Faktoren abhängig. Es scheint in anderen Ländern wie zum Beispiel den USA viel akzeptierter und weniger sanktioniert zu sein als bei uns. Dort gibt es wohl durch eine „Versuch und Irrtum“-Haltung ein entspannteres Umgehen mit dem Thema. Es gibt eben keinen Erfolg ohne vorherigen Misserfolg.

Eine Initiative, die gegen das Tabu arbeitet, sind die „Anonymen Insovenzler“. Gegründet von einem ehemaligen Unternehmer, gibt es jetzt in 15 Städten Selbsthilfegruppen, die schon Tausende von Teilnehmenden hatten. Und auch auf den sogenannten „Fuck up Nights“ berichten vorwiegend junge „SpeakerInnen“ aus Start Up Unternehmen vom Scheitern ihrer Projekte.

  • Scheitern gehört zum Leben
    Ich glaube, Scheitern gehört unabwendbar zum Leben und wir können (viel) daraus lernen. Wir können scheitern, weil wir unsere Ziele zu hoch oder sogar unerreichbar gesetzt haben. Als Spieler wie Thomas Broich in der 1. Bundesliga auf der Bank sitzen und irgendwann ohne Vertrag dastehen oder mit sicherem Einsatz und niedrigerem Einkommen in der 2. oder 3. Liga oder im Ausland weitermachen.
    In bestimmten Bereichen ist das Scheitern für Einzelne der Teilnehmenden sogar fest mit eingeplant. Es kann im Sport immer nur einen Sieger geben. Bei den Verkaufszahlen der Autoindustrie steht am Ende immer nur einer auf dem 1. Platz. Es machen nicht alle Grundschüler Abitur. Am Ende der Fußballbundesligasaison werden zwei Mannschaften absteigen und eine muss in die Relegation. Es wird auch nach der Bundestagswahl 2017 im Herbst nur eine/n BundeskanzlerIn geben.
  • Scheitern bei wichtigen oder nebensächlichen Dingen
    Es spielt sicher eine Rolle, ob es ein Scheitern bei Kleinigkeiten oder auf hohem Niveau ist. Die Niederlage im Fußball-WM-Endspiel ist bitterer und schwerer zu verarbeiten als ein verlorenes Freundschaftsspiel. Ein schlechter Platz bei einem Vorbereitungswettkampf tut weniger weh als „nur“ die Bronze-Medaille bei einer Olympiade trotz jahrelanger intensiver Vorbereitung mit vielen privaten Entbehrungen.
    Hat eine Studentin einen Blackout trotz bester Vorbereitung bei einer Vortrag in einem nebensächlichen Seminar im Studium oder in der entscheidenden Prüfung zum Staatsexamen?
    Sicher spielen auch äußere Umstände eine Rolle, wie gut man ein Scheitern verarbeiten kann. Einflüsse von außen wie ein technischer Defekt oder eine falsche Entscheidung des Schiedsrichters machen es leichter, da es ja einen „Schuldigen“ gibt, also es nicht an den eigenen Fähigkeiten und dem eigenen Einsatz gelegen hat. Das hinterlässt nicht so schwere Wunden wie eigenes Versagen.
  • Müssen wir alle Ziele erreichen?
    Ist es überhaupt sinnvoll, alle seine Ziele zu erreichen? Der Schriftsteller Arno Geiger fasst das für die Literatur in seinem Kurzgeschichtenband „Anna nicht vergessen“ so zusammen: „Ein glückliches Leben ergibt keinen Roman: das zeigt die Weltliteratur. Das Gefühl der Verlassenheit und der Sinnlosigkeit und der Vergeblichkeit, das gehört gerade auch in die Erzählung und in die Shortstory wie die Leiche in den Kriminalroman.“
    Braucht es im Leben nicht auch das Scheitern als zentrales Lebenselement?
    Wäre es nicht langweilig, wenn alles immer klappt und das Leben sorgenfrei wäre? Ist Scheitern nicht auch so etwas wie dass berühmte „Salz in der Suppe“?
    Und was ist, wenn es keine (wichtigen) Ziele mehr gibt? Ein Kollege von mir erzählte von ausgewanderten Deutschen auf Mallorca, die sich – etwa nach dem lukrativen Verkauf ihrer Firma – dort ein sorgenfreies Leben versprochen haben und nach einem Jahr austauschbarer Bussi-Bussi-Partys auf der Suche nach neuem Lebenssinn (und -zielen?) begeben. Ein Psychologe soll dort schon gut von der Begleitung der Ausgewanderten auf der Suche nach neuem Lebenssinn leben.
  • Zielerreichung als Fetisch?!
    Oder gibt es nicht auch ein immer schneller drehendes Ziel-Karussell? Meine Szene der Persönlichkeitsentwicklung arbeitet ja viel mit Visionen, Zielerreichung, Verlassen der Komfortzone, Aufbrüchen zu neuen Ufern… Und das hat ja auch seine Berechtigung und ist für viele unserer Kunden und KlientInnen hilfreich und inspirierend.
    Aber es spielt oft eine – meines Erachtens – übertriebene „Alles ist machbar“-Philosophie mit „Keine Grenzen“, „keine Hindernisse“, „alle Probleme sind nur versteckte Lösungen“ und eben selten ein Gedanke an ein mögliches Scheitern mit. Das ist ja zu Recht immer wieder als „Selbstoptimierungswahn“ beschrieben worden. Scheitern ist da nicht vorgesehen oder es wird mit lautem „Tschaka“ zum nächsten Angriff geblasen. Ich erlebe zunehmend aber in meiner Arbeit und auch privat den Wunsch nach Entschleunigung, Überschaubarkeit, kleineren oder auch mal gar keinen Zielen und Schritten und Zufriedenheit mit dem Erreichten. Alles eine Nummer kleiner bringt weniger Scheitern mit sich.
  • Der Versuch ist es wert
    Das Gute am Scheitern ist, es versucht zu haben. Sich am Ende nicht vorzuwerfen, etwas Wichtiges unterlassen zu haben. Sich in einer Lebensbilanz vorzuhalten, ein wichtiges Ziel nicht angegangen zu sein… Und irgendwann gibt es ein VORBEI – ZU SPÄT! Den Mut gehabt zu haben, dagegenzuhalten und dranzubleiben.
    Wie Harry Belafonte zugeschrieben wird: „ Ich brauchte Jahrzehnte, um über Nacht berühmt zu werden.“ Das heißt: Auch erfolgreiche und berühmte Menschen haben Probleme, sie gehen nur anders damit um.
    Die Dinge, die man falsch gemacht hat, bereut man nicht so sehr, wie die Dinge, die ich nie versucht habe. Und ein schnelles Scheitern kann auch dafür sorgen, das zu entwickelnde Produkt oder eigenen Ideen noch zu verbessern.
  • Wann sollten wir loslassen?
    Dagegen steht, irgendwann loszulassen und sich ein Scheitern einzugestehen. Die Kosten und der persönliche Verzicht und die eigene Anstrengung stehen in keinem Verhältnis mehr zum Aufwand. Oder viel zu lange und mit hohen investiven und/oder persönlichen Kosten weitergemacht, bis es nicht mehr ging. Alles ist aus dem Ruder gelaufen. Und dann den entscheidenden Schritt gehen, die Hoffnung auf einen Erfolg loszulassen und zu scheitern, aber dadurch auch frei zu sein für neue Wege und Projekte und langsam die Energien dafür zu kriegen. Die Wissenschaft nennt das die Dissonanztheorie: Es gibt einen großen inneren und sozialen Rechtfertigungsdruck, d.h. eine einmal getroffene Entscheidung und die Anstrengungen müssen vor sich selbst (und anderen) gerechtfertigt werden. Das Eingestehen des Scheiterns würde einen unangenehmen Spannungszustand erzeugen.
    Das sieht man aktuell beim VW Konzern in der Diesel-Affäre oder bei PoltikerInnen, die bei ihrer Doktor-Arbeit gepfuscht haben. Das Eingeständnis, falsch gehandelt zu haben (wenn es überhaupt kommt) kommt erst am Ende langer Vertuschung und scheibschenweiser Anerkennung von Fehlern.
  • Zu lange gekämpft oder zu früh aufgegeben?
    Und es gibt den Zwiespalt zwischen zu früh aufgehört und zu lange festgehalten. Möglicherweise einmal zu früh aufgehört und knapp – ohne es natürlich zu wissen – am Erfolg vorbei geschrappt (und gescheitert). Oder einmal mehr aufgestanden als liegen geblieben, es noch einmal versucht und den großen Erfolg eingeheimst. Die Erfindungen der Glühbirne oder des Telefons gehören wohl in diese Kategorien wie vermutlich auch viele andere bahnbrechenden Erfindungen und Entdeckungen, die erst nach vielen und scheinbar aussichtslosen Versuchen entstanden sind.
    Vermutlich lässt die Hoffnung, da es doch noch klappt, viele so lange an einem bisher erfolglosen Projekt festhalten.
    • Ich selbst bin seit 30 Jahren in der Erwachsenenbildung tätig und seit 20 Jahren auch mit meiner Praxis für Persönlichkeitsentwicklung und begleite dort Menschen in Kursen, Seminaren, Ausbildungen, Therapie und Supervision. Von drei Festanstellungen in den ersten 10 Jahren habe ich zweimal gekündigt oder um Vertragsauflösung gebeten, weil ich einfach nicht mehr zufrieden war. Eine Arbeit war aufgrund der Förderung durch Bundesprojektmittel zeitlich befristet. Es ist immer danach weitergegangen. Mit Höhen und Tiefen, aber doch stetig weiter.
    • Seit 20 Jahren bin ich ausschließlich selbständig in meiner Praxis Lebenswege und muss mich immer wieder neu „verkaufen“. Wenn ein Projekt nicht geklappt hat, habe ich halt ein Neues entwickelt und angeboten bzw. hatte immer mehrere gleichzeitig. Und von meinen Angeboten in eigener Regie oder mit Kooperationspartnern zusammen sind sicher 40 % oder mehr in diesem Jahren nicht zustande gekommen. Das war immer auch anstrengend und ermüdend, manchmal auch kränkend, weil unser Selbstwert auch spürbar durch unsere Aufträge und Erfolge genährt wird. Aber als richtiges Scheitern habe ich das interessanterweise nie empfunden.
      Half mir doch mein Dranbleiben, meine Hartnäckigkeit als eine meine stärksten Eigenschaften meinen Traum einer eigenen Praxis am Leben zu halten und immer wieder nach neuen Wegen zu schauen.  Und eben auch immer flexibel zu bleiben ohne halsstarrig zu werden.

Welche Lehren/Konsequenzen können wir aus einem vermeintlichem Scheitern zu ziehen? Kann ich scheitern lernen?

  • Das Aufgeben eines Projektes oder einer Idee steht am Anfang
    Das Wichtigste und oft auch Schwerste ist meines Erachtens, sich das Scheitern eines beruflichen Projektes, einer Ehe oder eines immer mehr unerreichbaren privaten Ziels erst einmal einzugestehen und nicht mehr danach zu streben. Das heisst: Illusionnen aufgeben, Loslassen, Abwickeln, Verträge kündigen, Vereinbarungen auflösen, das Geschäft verkaufen oder Insolvenz anmelden… usw.

  • Beachten Sie all Ihre Gefühle
    Für die psychische Hygiene ist das Zulassen aller beteiligten Gefühle wie Wut, Enttäuschung, Trauer, Leere. Und das kann einige Wochen und Monate dauern, denn die Seele ist oft noch in einer Art Arbeitsmodus. Das hilft, das Erlebte noch einmal anzuschauen, die unterschiedlichen Emotionen auszuleben und zu verarbeiten. Gemeisterte Krisen stärken unser Selbstwertgefühl.

  • Nüchterne Analyse des Geschehens
    Dem sollte – sinnvollerweise erst nach einiger Zeit – die nüchterne Analyse des Geschehens folgen. Was hat aufgrund eigener Fehler oder falscher Zielsetzung nicht geklappt und was aufgrund unvermeidbarer Störungen von außen? Und die oft gerühmte Kunst die beiden Aspekte auseinander zu halten. Eine so weit möglich objektive Bewertung ohne Verdrängung aus Selbstschutz.

    Wichtig ist, die selbstverursachten Gründe für das Scheitern zu erkennen und hilfreiche Erkenntnisse für die Zukunft zu gewinnen. Oft war diese Analyse früher nicht möglich, weil es „wie im Hamsterrad“ darum ging, immer weiter zu machen.

  • Verbieten Sie sich Selbstmitleid oder Schuldgefühle
    Die Kunst ist, das Projekt loszulassen und sich nicht zu lange festzubeißen. Mit einer gesunden Selbstachtung weitermachen. Damit kommen Sie aus aus einer Sieger–Verlierer, Alles-oder-Nichts oder Schwarz-Weiß-Haltung heraus. Die Gefahr ist, nach einem Scheitern alles Aufgebaute zu negieren und uns unsere Leistungen vollkommen abzuwerten. Es gibt auch bei einem Scheitern vieles, was vorher gut gelungen ist und mit dem Sie weiterarbeiten und mit diesen Erfahrungen einen neuen Anfang wagen können. Auf das Sie aufbauen oder in guter Erinnerung behalten kann. Verzeihen Sie sich Ihre Fehler. Dafür gibt es zum Beispiel in der Trauerbegleitung kleine Rituale.Vermeiden Sie dabei Verallgemeinerungen: weder ist die Welt immer schlecht und gegen Sie noch gibt es ein Gesetz, dass Sie immer wieder scheitern werden.
    Setzen Sie Ihr Scheitern in Relation zur Umwelt. Andere haben nur noch ein Jahr zu leben oder sind nach einem Unfall behindert oder sitzen und Rollstuhl. Dieser Blick kann Ihnen die Schwere nehmen, die Sie vielleicht für einen Neuanfang noch lähmt.
  • Suchen Sie sich gute Verbündete und Unterstützer
    Vermeiden Sie Nörgler und Besserwisser, die vor allem auf Ihnen rumhacken wollen oder es immer schon gewusst haben.“ Lassen sie für eine begrenzte Zeit einmal eine/n UnterstützerIn den/die Advocatus diaboli spielen. Der/die alles in Frage stellt, was Sie gemacht haben, um Ihnen zu helfen, die richtigen Schlussfolgerungen für die Zukunft zu stellen. Aber mit der Haltung, Sie zu unterstützen und nicht -wie es Besserwisser gerne machen- sich selbst über Sie zu stellen. Holen Sie sich bei Bedarf fachlichen Rat von außen zur Abwicklung des alten Projekt und ggfs. zur Entwicklung eines neuen (Steuerberater, SchulderberaterIn, Arzt, TherapeutIn, Rechtsanwalt, Investor).
  • Mit neuen (realistischen) Zielen wieder an den Start
    Stecken Sie den Kopf nicht in den Sand und formulieren Sie nach Ihrer notwendigen Trauerzeit neue Ziele. Das ABC hat mehr Buchstaben als Plan A und Plan B. Überprüfen Sie Ihre Zielsetzung und Ihr Anspruchsniveau. Vielleicht waren Ihre Ziele zu ungenau und Ihre Ansprüche zu hoch/zu perfektionistisch und damit nicht zu erreichen. Visualisieren Sie, wie Sie Ihre Krise überwinden und neue Ziele angehen.
  • Das Scheitern als Chance für persönliche Veränderungen sehen
    Jede Krise ist bekanntermaßen auch eine Chance. Scheitern lehrt uns, auch ein/e andere/r sein zu können. Das müssen wir lernen, die Schule lehrt uns das in der Regel nicht. Scheitern zeigt uns unter Umständen unsere Begrenztheit auf. Aber mit klaren Grenzen vor Augen kann ich auch etwas erreichen. Die heutige Motivations- und „Raus-aus-der Komfortzone“-Mentalität hat meines Erachtens auch viel Überforderndes und Rastloses in sich.

    Es gilt dort die oft überfordernde und energiezehrende Selbstoptimierung auf allen Kanälen. Dagegen scheint mir wichtig, seine Prioritäten und Ziele realistisch und für sich authentisch bestimmen. Wie die vier Hobbits im Herr der Ringe, die in ein großes Abenteuer geworfen werden und sich dort zwar bewähren, aber eigentlich nur ihr ruhiges Leben im Auenland leben möchten. Ich möchte das Scheitern auch nicht mystifizieren und als neues „Must-Have“ verkaufen. Es gibt sicher Menschen, die ohne größeres Scheitern ein erfolgreiches und glückliches Leben führen. Die Kunst dabei ist vielleicht, Projekte, die von vornherein zum Scheitern verurteilt sind, gar nicht erst zu anzugehen. Uli Hoeneß hat nach dem verschossenen Elfmeter seinen Weg im Fußballgeschäft und als Unternehmer viele Jahre sehr erfolgreich gemacht bis am Ende tragischerweise hin zu Skandal und Prozess wegen Steuerhinterziehung. Aber das ist ein anderes Thema.

    • Welche Erfahrungen haben sie mit Scheitern gemacht?
    • Wie denken Sie heute darüber?
    • Wie hat sich im Lauf der Jahre Ihre Einstellungen zu einem früheren Scheitern verändert?
    • Was war für Sie Gutes dabei?
    • Was haben Sie für sich dadurch gelernt?

      Wie immer freue ich mich auf Ihre und Eure Rückmeldungen.

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4 Gedanken zu „Scheitern … weit verbreitet und wenig diskutiert

  1. Hallo Winfried,
    super Artikel.
    Ich halte mich an folgenden Satz: Du kannst entweder gewinnne oder lernen. (-;

    Für mich hat sich im Nahchinein alles Scheitern als gut erwiesen, entweder, weil es um Wachsen ging, oder, weil das erstrebte Ziel gar nicht gut für mich gewesen wäre. Die Kunst ist, im Scheitern den Ansporn zu finden, etwas besser zu machen. Früher konnte ich das schlecht. Heute ist es so, dass es in mir die volle Energie weckt, gerade deshalb weiter zu machen. Natürlich, nachdem ich analysiert habe, was schief gelaufen ist…

    • Lieber Andreas,

      das ist sicher eine Kunst und braucht einen gutes Selbstgefühl, zu erkennen, wann ein angestrebetes Ziel loszulassen ist, weil es einfach nicht zu einem passt. Viel Erfolg auf deinem Weg.

      Lieben Gruß
      Winfried

  2. In der aktuellen Ausgabe des Systemfehler-Podcasts geht es auch ums Scheitern. Genauer um das „Museum of Failure“, das gescheiterte Produkte ausstellt.

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