Sie kennen das sicher auch, das Wörtchen „eigentlich“, das wir oft verwenden, wenn es darum geht, einen Unterschied zu beschreiben. „Eigentlich hätte ich doch die Pizza bestellen sollen und nicht die Spaghetti…“ oder „Eigentlich steht mir das Kleid gar nicht und ich habe es in die Kleiderkammer gegeben…“ oder „Eigentlich brauche ich gar kein Auto und komme mit dem öffentlichen Nahverkehr und dem Fahrrad gut zu recht…“.
Da beschreiben wir kleine und große Unterschiede im Alltag zwischen verschiedenen Wünschen, einem veränderten Geschmack oder einen Unterschied zwischen unserem jetzigem Leben und einem möglichen anderen.
Um den letzten Punkt soll es heute in diesem Beitrag gehen: der Unterschied zwischen dem Leben, das ich lebe und dem, das ich auch leben könnte und damit vielleicht (noch) zufriedener wäre, als ich es heute bin.
Die Methode der Psychoorganischen Analyse, mit der ich viel in meiner Praxis arbeite, nennt das den „primären Impuls“ und meint all die kleinen und großen Wünsche, die ich oberflächlich oder tief in mir drin immer wieder verspüre. Vielen dieser Wünsche sind Sie vermutlich in Ihrem Leben bereits gefolgt … bei Ihrer Berufswahl, der Wahl Ihres Partners und Ihren Ferienzielen. Etwa nach vielen Jahren in den Bergen einmal den Sonnenuntergang auf einer Mittelmeerinsel zu erleben.
Dieser primäre Impuls kann sich in unterschiedlicher Weise zeigen, als Gedanke, als Bild, als Wort, als ein Gefühl oder als eine Bewegung. Zum Beispiel könnte ich nach dem Hochladen dieses Beitrages das innere Bild von einem Cappuccino haben oder den Gedanken, am Rhein zu joggen oder das Gefühl, ich möchte etwas ausruhen und ziehe mich für eine Stunde zurück.
„Der primäre Impuls ist ein Impuls von innen, der seine Realisierung im Außen sucht.“ Sagt der Begründer der Methode Paul Boyesen und unterscheidet damit zu Träumen und Phantasien, die nicht umgesetzt werden wollen.
Je mehr es mir gelingt, zum einen damit in Kontakt zu kommen und zu bleiben und zum anderen diese Impulse auch zu leben oder zu befriedigen, umso zufriedener werde ich in meinem Leben sein. Das meint die Überschrift „Eigentlich möchte ich“. Ich lebe vielleicht schon recht zufrieden mein Leben und immer wieder gibt es da noch etwas anderes, was (noch) nicht zum Zuge kommt.
Ein Beispiel: Ich habe zwei Töchter und verbringe einen Tag mit Ihnen und bin am Abend sehr zufrieden. Ich habe dann wohl viel von meinen wichtigen, inneren primären Impulsen leben können. Zwei Tage später bin ich wieder mit ihnen zusammen und abends habe ich gemischte Gefühle. Etwas hat gefehlt, ins Kino zu gehen, mehr Zeit mit meiner Frau zu verbringen, meine Stille Stunde oder die Arbeit am nächsten Blogeintrag. Das heisst, es geht nicht um etwas Spektakuläres, es kann ganz normaler Alltag sein, der mich zufrieden oder unzufrieden macht. Diese primären Impulse sind nichts Statisches, sie können sich immer wieder verändern.
Wichtig ist für mich, daß unsere Zufriedenheit im Leben davon abhängt, wieweit wir in Kontakt mit unseren primären Impulsen sind, auch wenn wir nicht alle leben können. Alleine das Spüren und Betrachten unserer Impulse läßt in uns das Gefühl von Zufriedenheit entstehen. Z.B. war ich jahrelang als Bergsteiger in den Alpen unterwegs und auch nach schlechten Touren war ich zu Hause bald wieder dabei zu schauen, wo es im nächsten Jahr hingehen könnte. Und dieses „Brüten“ über neue Touren gab schon vorher ein gutes Gefühl. Heute gehe ich nicht mehr zum Klettern weg, das Thema ist scheinbar durch, ich sage auch nicht mehr „Ich bin Bergsteiger“ sondern „ich bin einige Jahre lang in die Alpen gefahren“. Andere Impulse haben den einstigen abgelöst.
Zu unterscheiden ist, daß Sie nie alles leben können, was sie an primären Impulsen spüren. Das ist auch nicht nötig. Wichtig ist der Kontakt dazu, die Bereitschaft sich für einzelne Impulse einzusetzen und die Realität anzuerkennen, daß wir eben nicht alles erreichen, was uns besonders am Herzen liegt.
Leider ist es häufig so, daß wir uns dann eher schlecht fühlen. Ich kann aber viele schlechte Erfahrungen machen und dennoch können mich meine inneren Impulse durchs Leben tragen und neue Hoffnung bringen. Wenn jemand aufgrund schlechter Erfahrungen an seinen primären Impulsen zweifelt, gibt er den Glauben an seine innere Welt auf oder stellt sie hinten an.
Alte Impulse können uns aber auch jahrelang treu bleiben. Ein weiteres Beispiel:
Ich wollte mit 11 oder 12 Jahren unheimlich gerne Schlagzeug lernen und spielen. Damit konnte ich mich aber bei meinen Eltern nicht durchsetzen. Dieser Wunsch hat mich aber immer wieder beschäftigt. Vor 15 Jahren habe ich dann in einer afrikanischen Trommelgruppe angefangen, bin zwei Jahre später in eine Sambagruppe eingestiegen und habe seitdem über 12 Jahre hinweg in 6
verschiedenen Trommel- und Percussionsgruppen gespielt und/oder sie mit angeleitet. So konnte ich beim kath. Weltjugendtag im Kölner Rhein-Energie-Stadion 2005 oder bei der Fußball-WM 2006 beim Public Viewing vor Tausenden von begeisterten Zuschauern auftreten. Von Thüringen bin ich drei Jahre lang für jede Probe 80 km nach Göttingen gefahren. Wer etwas will, findet Wege.
An der Schule meiner Tochter habe ich eine Samba-AG aufgebaut und nach drei Jahren mit einer schönen Sambanacht mit drei Gruppen abgeschlossen.
Und das außer einigen besuchten Workshops als Autodidakt. Ich hatte ja nie eine längere Ausbildung darin gemacht, durch das Mitspielen viele Erfahrungen gesammelt. Nebenher habe ich seit 2000 Instrumentenbau- und Trommelseminare für Familie und Menschen mit Behinderung oder MitarbeiterInnen in der Behindertenhilfe konzipiert und durchgeführt. Mehr dazu finden Sie hier Trommeln und Instrumentenbau
Und ich habe mir in der Zwischenzeit endlich auch ein Schlagzeug gekauft und – damals noch in Thüringen – mit über 40 an der Musikschule die Grundlagen erlernt. Es ist also nie zu spät, einen Wunsch umzusetzen!
Zu spät war es allerdings, damit auch in einer Rockband zu spielen. Dafür wurde ich dann doch nicht mehr gut genug und es fehlte immer wieder die Zeit, neben Beruf und Familie intensivst zu üben. Das war dann doch eine bittere Erkenntnis. Vertane Chancen sind eben vertane Chancen. Vor ein paar Monaten habe ich das Schlagzeug wieder verkauft. Es hat seine Zeit im meinem Leben (noch) gehabt und damit das alte Thema „Schlagzeuger“ weitgehend befriedet für mich abgeschlossen.
Für mich ist in meiner Arbeit die Frage wichtig, wie wollen die Klienten oder TeilnehmerInnen meiner Seminare sich strukturieren. Die einen bräuchten mehr Raum und Aufmerksamkeit für ihren primäre Impulse, weil sie sich so getrieben fühlen und ihnen die eigentliche Richtung verloren gegangen ist.
Die anderen wissen tief drinnen schon, was sie wollen, aber es kommt nicht in die Realität, sie brauchen vielleicht mehr Durchsetzungsvermögen, etwa das klare Nein zu Überstunden, mangelnder Arbeitsteilung zu Hause, mehr Grenzen, einfach mehr Mut zu ihren Impulsen zu stehen und sie zu leben.
Das Thema wäre eben nicht so spannend, wenn es nicht die Herausforderung der Umsetzung der primären Impulse in die Welt gäbe. Wären primäre Impulse und die Verkörperung dasselbe, hätten wir nichts damit zu schaffen, wie wir und welche Impulse wir ins Leben umsetzen. Das Verlangen nach Verkörperung verlangt von uns aber oft Einsatz und Kampf für unsere Impulse und gegen Hindernisse, die sich der Realisierung entgegenstellen. Der Ausdruck in die Welt, die Transformation würde ohne diesen Einsatz fehlen. Wir blieben sonst nur in unserer inneren Welt oder warten auf später: „Wenn erst dies und das passiert ist, die Kinder aus dem Haus, ich in Rente bin, das Haus abbezahlt ist, usw.“
Am besten wäre es dann, seine primären Impulse zu vergessen, damit sie nicht schmerzlich daran erinnern, was alles noch sein könnte im Leben und von uns nicht inkarniert wird. Angesichts des Todes können wir uns aber des ganzen ungelebten Lebens schmerzhaft bewusst werden oder auch schon, wenn wir mit steigendem Alter oder einer Erkrankung merken, welche Chancen wir vertan haben und jetzt nicht mehr nutzen können
Die Fee oder die gute Mutter oder Geliebte, die uns alles von den Augen abliest und für uns sorgt, gibt es leider nur im Märchen. Wenn ich für meine Impulse kämpfe, mache ich dieses mit Freude und aus der Einsicht, daß ich mich eben für die Realisierung einsetzen muß. Ich kämpfe nicht aus Selbstzweck nur um zu kämpfen oder um immer wieder Recht zu behalten, sondern in Kontakt mit einem konkreten Ziel.
Die Beziehung zu unseren primären Impulsen findet also in drei Ebenen statt:
- Die erste ist, die primären Impulse zu spüren. Das ist häufig leichter gesagt, als getan. Die Herausforderungen zu leisten und zu funktionieren sind groß. Ablenkung ist überall vorhanden, Zeitung, Radio, Fernsehen, etc. Der Weg zu unserem Inneren muß dafür erst einmal eingeschlagen werden, muß Raum haben können. Primäre Impulse sind oft etwas Leises und das äußert sich nicht so laut wie Wut oder Ärger. Es sickert eher so ins Bewusstsein, manchmal leise aber unaufhörlich wie Kaffee durch den Kaffeefilter. „Da gibt es doch vielleicht noch etwas Anderes, Ungelebtes in meinem Leben?!“
- Der zweite Punkt ist die Realisierung oder Nichtrealisierung unserer primären Impulse Was von all dem, was in uns ist, wollen wir umsetzen und was können wir umsetzen? Wie können wir erfolgreich dafür eintreten? Wie hoch ist der Aufwand bis zum Ziel? Sie wissen doch: „Wer etwas will, findet Wege.“
- Die dritte Ebene gilt dem Realisierten, dem Erreichten. Wir sind angekommen. Unsere primären Impulse sind im günstigsten Fall in der entsprechenden Form gelebt worden. Können wir unser Ankommen spüren, uns darüber freuen und es eine Zeitlang geniessen oder geht es uns schnell wieder verloren? Ist es so, wie wir uns das früher vor unserem inneren Auge ausgemalt hatten?
Unsere Potentiale, also das, was alles sein könnte, sind viel größer als unsere momentanen persönlichen Vorlieben. Jeden Tag können wir spüren, ob wir mit unseren Impulsen, Wünschen und Bedürfnissen oder Befreiungskämpfen, Gleichmut bis hin zur Resignation oder Gleichgültigkeit in Kontakt sind. Wir können jeden Tag unsere Erfahrungen wählen und auf was wir unsere inneren Gedanken vorrangig richten, was gerade „dran“ ist, was ich eigentlich möchte. So könnten wir alle uns selbst und unseren Impulsen näher sein, als wir es „normalerweise“ sind.
- Wie gehen Sie mit Ihren primären Impulsen um?
- Sind sie in gutem Kontakt damit?
- Oder fühlen Sie sich eher von außen getrieben?
- Gibt es alte Kinder- oder Jugendträume, die Sie endlich umsetzen möchten?
- Fühlen Sie Ihre inneren Wünsche, aber der Aufwand Sie umzusetzen schreckt Sie ab?
- Haben Sie schon einige ihrer primären Impulse nach langem Anlauf mit Erfolg umgesetzt und möchten davon berichten?
Ich freue mich auf Ihre Rückmeldungen.
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Foto: Sonnenuntergang und Samgagruppe Garrido Colonia: privat, Sambanacht: Peter Cordes
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Sehr geehrter Herr Ryzek,
herzlichen Dank für Ihren Beitrag und Ihre „warmen Worte“.
Wenn ich eine „zündende“ Idee für Ihre Seite finde, melde ich mich gerne wieder. Hauskauf- und umzugsbedingt bin ich allerdings derzeit bei meinem eigenen Blog mit Beiträgen in Verzug geraten.
Erst einmal wünsche ich Ihnen vel Erfolg mit Ihrem Magazin!
Beste Grüße
Winfried Wershofen
Danke schön. :-)
Ich denke, dass Ihre Themen im Bereich «wachsen» bestens aufgehoben sind. Da geht es um die Psyche, Persönlichkeitsentwicklung, Psychosynthese, Synchronizität, Imagination, Affirmation und ähnliche Themen.
Glückwunsch auch zu dem vermutlich arbeitsintensiven aber doch auch erfüllenden Umzug. So etwas macht man doch gern, gell?
Viele Grüße
Jürgen Ryżek
Eigentlich ist das ja ein sehr, sehr häufig verwendetes Wort für einen «Impuls von innen, der seine Realisierung im Außen sucht». Eigentlich schade, wenn nicht tragisch, dass der Impuls seine Realisierung sucht, aber offensichtlich nicht so recht findet. Ein Anzeichen dafür, wie sehr wir unser Leben verhindern anstatt es zu leben.
Mir gefällt Ihre ungewöhnliche Herangehensweise an das Alltägliche. Deshalb lade ich Sie herzlich ein, auf «Mensch vital» über die großen und kleinen Hindernisse des Alltags so tiefgründig zu reflektieren wie hier,
Mein allem zugrunde liegendes Thema in dem Online-Magazin — ich bin Initiator und Moderator — ist die Selbstheilung: durch bewegen, entspannen, wohlfühlen, einswerden und heilen. Dies sind die Perspektiven, aus denen geschrieben wird. Lassen Sie doch andere an Ihren Gedanken teilhaben, das ist, finde ich, eine Bereicherung. Fügen Sie Ihr Puzzlesteinchen zum großen Bild der Selbstheilung hinzu.
Außer dem Spaß am Schreiben gibt es ein paar leckere Bonbons für Autoren. Schnuppern Sie doch einmal rein: http://www.mensch-vital.com/. Würde mich sehr freuen, wenn das Magazin Sie überzeugt und ich bald von Ihnen höre. :-)