Ich möchte mich heute einem Thema widmen, das meines Erachtens eines der wichtigsten menschlichen Grundbedürfnisse ist. Und das in seiner Bedeutung für unser tägliches Handeln und Wohlbefinden weit unterschätzt wird.
Es geht um das Thema Beachtung, das für uns so elementar ist wie Essen oder Trinken. Nur meist ist uns das so nicht bewusst.
Es gab ja das Experiment, das ein Kaiser des Römischen Reiches durchgeführt hatte. Er wollte die Sprachentwicklung erforschen, also ob diese angeboren sind oder gelernt werden.
Dazu ließ er Neugeborene von Ammen aufziehen, die sie füttern und sauber halten sollten. Ansonsten aber keinen weiteren Kontakt mit den Babies aufnehmen. Er kam zu dem Ergebnis, das die menschliche Sprache durch den sprachlichen Kontakt erlernt wird, denn diese Kinder konnten von sich aus nach längerer Zeit nicht sprechen. Aber ein weiteres Ergebnis war: Viele Kinder starben, wahrscheinlich an einem Mangel an Beachtung und Zuwendung, wie neuere Forschungen bestätigten.
Beachtung ist in allen zwischenmenschlichen Begegnungen von Bedeutung. Alles, was wir alltäglich miteinander tun – geben und nehmen, verkaufen und kaufen, lehren und lernen, anweisen und ausführen, lieben und geliebt werden, dient immer auch dem Austausch von Beachtung.
Je bewußter für uns selbst unser Bedürfnis nach, der Austausch von und der Umgang mit Beachtung ist, umso zufriedener können wir damit werden.
Wenn Sie Kinder haben, können sie feststellen, wie diese mit Nicht-Beachtung umgehen: Einige ziehen sich vielleicht in sich zurück und resignieren.
Die meisten aber werden laut, stören, „nerven“, fangen Streit an, usw. Sie sind – wie es eine Kollege einmal beschrieb – wie Flugzeuge, die auf Landeerlaubnis auf dem Flughafen warten und über dem Flughafen kreisen, während langsam der Treibstoff zu Ende geht. Die Erlaubnis aufzusetzen sorgt im Cockpit dann für kollektive Erleichterung.
So ähnlich geht es Kindern, wenn sie endlich bei ihren Eltern landen können mit ihren Anliegen, Sorgen, Kümmernissen und/oder ihrem Bedürfnis, einfach beachtet zu werden. Nach einigen Minuten verschwinden sie auch wieder und lassen uns wieder „in Ruhe“. Sie sind gelandet und können für eine Zeit wieder in ihre Sphären abheben. Selbst Geschimpft-zu-werden ist hier jedoch noch besser als Gar-nicht-bachtet-werden. Markant wird das besonders, wen ein Geschwisterkind in die Familie kommt oder wenn etwa Besuch im Hause ist.
Der Umgang mit dem Bedürfnis nach Beachtung wird – wie wir oben gesehen haben – schon in der frühesten Kindheit gelernt.
Aus den Forschungen dazu können wir ableiten, dass eine gleichmäßige, wohlwollende und ausreichende Beachtung des Babys und Kleinkindes für eine gute geistige und körperliche Entwicklung förderlich bzw. unverzichtbar ist.
Wie ich einem früheren Beitrag zum Thema Stress schrieb, lernt das Kind schon im Mutterleib über den Kotakt zur Mutter mit Stress umzugehen. Dieses setzt sich nach der Geburt fort.
Analog dazu gilt das auch für das Thema Beachtung. Fühlte sich das Baby im Mutterleib beachtet, wurde durch Tabak- und Alkoholverzicht Rücksicht auf seine Gesundheit genommen? Hat es spüren können, es wird freudig erwartet? Und es ist ein Unterschied, ob das Kind wie früher üblich kopfüber hängend mit einem Schlag auf den Hintern begrüßt wird oder wie heute (hoffentlich) weit verbreitet noch mit der Nabelschnur verbunden in ruhiger Atmosphäre der Mutter sofort nach der Entbindung
auf den Bauch gelegt wird. Es kommt zur liebevollen Wiederbegegnung mit der schon seit Monaten bekannten Mutter nach einer kurzen ersten Trennung durch die Geburt. Das Baby nimmt kurz nach der Geburt schon Kontakt mit seiner Umwelt auf und schaut sich um und möchte liebevoll begrüsst werden.
Der Penzberger Arzt und Therapeut und Begründer des ZIST, Dr. Wolf Büntig sieht hier schon erste Weichenstellungen, je nachdem wie Eltern bei der Geburt und in der Zeit danach auf das Neugeborene reagieren:
„Das Baby hat die falsche Haarfarbe oder zu viele oder zu wenige oder sieht aus wie Onkel so und so oder gar nicht wie der Papa…! Ist es wieder ein Junge oder endlich der Stammhalter… belegt mit allen Projektionen? Da werden wir schon nicht so begrüßt, wie wir es bräuchten. Etwa: Du da, wie es nie zuvor eine/n gegeben hat und auch nie wieder geben wird in deiner Einzigartigkeit.“
Den als Kind erlernten Umgang mit Beachtung nehmen wir mit ins Erwachsenen-leben, falls wir uns nicht bewusst damit auseinandersetzen. Sicher spielt auch eine genetische Veranlagung dabei eine Rolle.
Wir können krank werden an dem Stress, den wir entwickeln, Beachtung doch zu kriegen. Oder wir resignieren irgendwann und glauben, wir sind nicht beachtenswert und auch nicht liebenswert. Wir ziehen uns eventuell von der Welt zurück. Und werden fortlaufend mit diesem inneren Bild durch unsere Welt laufen und uns selbst abwerten.
D.h. ein gutes Selbstbewusstsein, das uns durch unser ganzes Leben trägt, bildet sich vor allem durch beachtet werden von unserem Umfeld, zu Beginn natürlich vorrangig von unseren Eltern in den ersten Lebensjahren.
Die therapeutische Erfahrung zeigt und hier zitierte ich noch einmal Wolf Büntig:
“Je mehr die Bestätigung des Daseins durch die Mutter und später durch die erweiterte Umwelt fehlt, um so mehr wird der Mensch dazu neigen, sich in der Welt nicht willkommen, fremd und überflüssig zu fühlen, sich zu isolieren und unter Streß außer sich zu geraten… Kein Wunder, daß sie die Gewohnheit entwickelten, unter Streß die Verbindung zum Körper und zur Welt aufzugeben…
Und wir brauchen als Menschen zur Entwicklung unseres Selbstbewußtseins die Wahrnehmung unseres Wesens, aus dem heraus wir selbstverständlich sagen können: Ich bin da, ich gehör dazu, ich habe meinen eigenen Raum, ich weiß wer ich bin – ich bin, der ich bin.“
Vielleicht erinnern Sie sich noch, wie das Thema früher zu Hause bei Ihnen behandelt wurde? Wurden Sie um Ihrer selbst willen beachtet und geschätzt oder war das vielleicht immer mit Leistungen verbunden? Bei Letzterem besteht die Gefahr, das wir meinen uns immer anstrengen zu müssen um Beachtung (und unsere Daseinsbestätigung!) zu erhalten. Oder liefen Sie unbeachtet einfach so mit im Alltag?
Ich selbst erinnere mich daran, dass ich alle gängigen Kinderkrankheiten bekam und dann ziemlich viel Aufmerksamkeit bekam. Heute denke ich, es war ein Weg, um an die – in meiner Erinnerung doch manchmal fehlende und zu geringe – Beachtung zu kommen.
Wenn wir in unserem Alltag wenig oder gar keine Beachtung kriegen, empfinden wir das als kränkend. Jemanden bewußt nicht beachten, also ihn ignorieren, kann sehr verletzend sein. (siehe das Eingangsfoto, wo dieses in einer Theaterszene etwas dramatisch inszeniert wurde).
Wir haben zum Beispiel bei einer Party ein Bedürfnis als Auch-Anwesende/r beachtet zu werden. Der Satz: „Was soll ich denn da, ich kenn doch keinen“ drückt auch meine Befürchtung aus, ich werde dort nicht beachtet werden und fühle mich nicht bestätigt und damit unwohl. Ich könnte aber auch mit dem tiefen inneren Bild „Ich bin liebens- und beachtenswert“ dort hingehen und nette Menschen kennen lernen, neue Kontakte knüpfen und einen schönen Abend verleben.
Ich glaube das ganze Industriezweige gut von unserem „Hunger“ nach Beachtung leben, sei es die Mode-, Kosmetik-, Auto- oder Schmuckbranche. Dabei geht es weniger, uns zu kleiden, zu bewegen oder zu schmücken. Es ist ein gutes Geschäft mit dem Wunsch nach Beachtung zu machen. Die Uhr für mehrere Tausend Euro zeigt ja die Zeit nicht genauer an und hält auch nicht viele Male länger als eine für Hundert Euro.
Das Ganze kostet uns so viel Arbeitszeit, so dass beim so genannten Feierabend keine Kraft mehr zum Austausch von echter Beachtung bleibt; falls wir nicht Millionen geerbt oder im Lotto gewonnen und somit viel Zeit haben. Der anstrengenden „Kaufrausch“ lässt dann kaum noch Zeit für Miteinander übrig.
Wie geht es Ihnen mit diesem Thema?“
- Sind Sie in gutem Kontakt mit Ihrem Bedürfnis nach beachtet-werden?
- Gelingt es Ihnen gut für sich zu sorgen? Ihrem/r PartnerIn einmal zu sagen: „Nimm mich doch einmal in den Arm und lass uns dann noch eine halbe Stunde spazieren gehen und über den Tag sprechen!“
- Oder suchen Sie Ihre Beachtung über verschlungene Wege wie „viel Kleidung einkaufen, oft zu spät kommen, öfters krank sein, immer rumnörgeln,…“
- Erhalten Sie Ihr Beachtet-werden wie selbstverständlich, als ob es Ihnen täglich „zufällt“ oder müssen Sie darum „kämpfen“?
- Ist Ihr Bedürfnis nach Beachtung eher groß oder empfinden Sie sich dabei eher genügsam?
- Können Sie anderen Menschen die nötige Beachtung schenken? Wie machen Sie das genau?
Ich möchte enden mit dem Tipp des Sufi-Lehers Idries Shah, der zur Lösung aus der „Versklavung“ durch den (unbewussten) Drang zum Austausch von Beachtung vorschlägt:
„Studiert, wie ihr Beachtung auf Euch zieht, schenkt, aufnehmt und austauscht.“
Ich freue mich wie immer über Ihre Rückmeldungen!
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Die Zitate von Wolf Büntig und Idres Shah stammen von der Webseite des ZIST bzw. aus dem Hörbuch von Wolf Büntig: „Wie nutze ich meine Potentiale?“, Velag: www.auditorium-netzwerk.de
Fotos: „Theaterfestival Bielefeld“ und „Geburt“: Winfried Wershofen (farblich verändert)
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